Guten Morgen ihr Lieben, – TRIGGERWARNUNG –

verdammt, verdammt, verdammt. Ich muss aufpassen. Sehr achtsam sein. Immer öfter treibt mich in letzter Zeit der Gedanke nach „biiiiiitttee, nur einen Schluck, nur ein Glas voll… biiitttteee“ um. Das Gefühl ist nicht stetig präsent, aber ich werde immer häufiger – quasi aus dem Nichts – getriggert. Die Medien sind voller „perfekter Momente für Alkohol“: bei Kochshows wird fröhlich zu jedem Gang angestoßen und dann drauf los gebechert was geht, kein Film nach 20 Uhr, keine Serie ohne Fusel, die Werbung dazwischen offeriert mir all die nun angeblich verpassten Gelegenheiten und Cocktailmischungen, wenn ich weiterhin nüchtern bleibe. Klar, Alkohol in den Medien ist weder neu noch nun massiver/agrressiver als noch vor ein paar Monaten, nur ich – ich bin wieder empfänglicher geworden. Ich spüre förmlich das Prickeln des Sektes auf der Zunge, den süffigen Geschmack zuckeriger Cocktails und das schwere Rotweinaroma im Mund, wenn im Fernsehen die Gläser erhoben werden. Verdammt.

In den FB-Gruppen war es schon mehrfach Thema: Wann und wie beginnt ein Rückfall? Schleicht er sich still und heimlich an und wir sehen ihn einfach nicht kommen? Oder sind die Zeichen eindeutig, kündigen sich in kleinen Details an, verstärken den Druck auf das Ventil der scheinbaren Erlösung, und werden nur nicht wahrgenommen oder gar verdrängt?

Als ich Oktober 2018 das erste Mal in die Abstinenz gegangen bin, war es (rückblickend) eher ein Durchhalten als ein Erkennen, warum ich nicht mehr trinken sollte. Weihnachten, Silvester klappten damals noch (mühsam) ohne Alkohol, doch im neuen Jahr verfiel ich damals in eine Art Belohnungsmodus: die anvisierten 100 Tage ohne Alkohol waren geschafft, nur war es an der Zeit, diesen Erfolg zu feiern. Ich fühlte mich so sicher, dass ich nach einem Glas „in Freiheit“ unbeschadet in die unbedarfte (besser: heroische?) Nüchternheit zurück finden würde. Oder täuscht mich meine Erinnerung und der Rückfall war nur das Ende einer Abwärtsspirale?
Ich blättere in den Tagebuchaufzeichnungen von damals und lese dort etwas ganz anderes: Gar nichts war leicht; ich stand unter Stress, war hochgradig depressiv und litt an permanenter Schlaflosigkeit. „…obwohl ich über Weihnachten in der Heimat ganz oft nahe dran war, mich richtig zu betrinken, um alles auszuhalten (…) Im Moment fühle ich mich eher wie ein gehetzter Hamster im Laufrad, der ständig noch mehr Drehung von außen bekommt…“ (Eintrag vom 31. Dezember 2018). Ich schrieb von einem stetig wachsenden Suchtdruck und wusste um die Konsequenz: „Komisch: So lange ging alles gut. Doch im Moment stelle ich das Ganze (die Abstinenz) in Frage. Das Einzige, das mich zurück hält ist die Gewissheit, dann nicht mehr so schnell wieder (mit dem Trinken) aufhören zu können.“ Eine Woche später, nach 105 nüchternen Tagen, trank ich wieder. Es dauerte knapp neun Monate bis ich das erste Glas wieder stehen lassen konnte. Seitdem ohne Rückfall. Aber…

Was treibt mich um? Was möchte ich verdrängen, ausblenden, wegtrinken? Ich schaue genauer hin und spüre es: Es sind die Sorgen um meine Kinder, denen es gerade nicht gut geht, und die Schuld, die ich dabei fühle. Als Mutter versagt zu haben. Ihnen helfen, sie beschützen zu wollen, wieder gut zu machen, was ich falsch gemacht habe, weil ich es nicht besser konnte oder wusste, aber das nicht zu können. Es ist ein so schmerzhaftes Gefühl, kaum auszuhalten. Weil ich die Zeit nicht zurück drehen kann. Weil ich es nicht schaffe, meine eigene vernarbte Haut abzulegen. Weil sie erwachsen sind und ich nur begleiten kann und dabei loslassen muss.

Der Älteste: liebenswürdig, eloquent, charmant und ein Familienmensch, aber geprägt von 20 Jahren Drogenkonsum und oft unfähig, die gesellschaftlichen Ansprüche zu bewältigen. Gerade hat er seinen Job wieder verloren, den ersten nach jahrelanger Arbeitslosigkeit. Die Tochter: klug, talentiert, selbständig, aber verstrickt in einer komplizierten Beziehung, die in eine Essstörung geführt hat, die sie nun zu überwinden versucht. Der Jüngste: belesen, interessiert, introvertiert, empathisch, aber durch Krankheit als Dreijähriger seitdem körperbehindert und ab dann in einer sozialen (zum Teil selbst gewählten) Isolation gefangen, die ihn einsam und depressiv werden ließ. Ich sehe seine Traurigkeit und seine Verzweiflung, so gern Teil eines Freundeskreises sein zu wollen. Wie nun gerade in Coronazeiten? Wir reden und überlegen, auf welchen Wegen man Bekanntschaften schließen kann: Vereine, Ehrenamt, Sport, soziale Medien. Doch den zweiten Schritt auf andere Menschen zu kann ich nicht für ihn gehen.

Ich denke, Loslassen lernen und Verlustängste überwinden sind große Hürden, die ich zu bewältigen habe. Dazu gehört ganz klar „Vertrauen in andere haben“ oder überhaupt vertrauen. Dass Dinge gut werden, sich auch mal von selbst regeln, worst case-Szenarien nicht eintreffen. Das ist wohl mein Handicap und ich kenne die Lösung nicht.

Aber Alkohol soll keine Option mehr sein. Drückt mir die Daumen, dass es dabei bleibt.

Für jetzt in Liebe
Eliza