Lieber Reiner,

heute mal explizit an dich. Ich habe deine Antwort auf meinen Eintrag zum Eineinhalbjährigen gerührt gelesen und die ganze Zeit seitdem in mir getragen. Es hat mich beschäftigt, denn du hast recht: Es ist für unsereins unerlässlich zu teilen… Uns mitzuteilen…
Danke so sehr für diesen Rat. Denn es stimmt. Mich nicht mehr zu äußern (wo auch immer) wäre fatal in den Konsequenzen. Zu viel nagt in und an mir und möchte aufgeschrieben werden.
Alkohol und Abstinenz sind meine – vermeindlich unsichtbaren – Weggefährten, dachte ich. Aus den Augen, aus dem Sinn. Dachte ich.

Falsch gedacht.

Über Ostern sind wir verreist und Karfreitag gestartet. Ich muss zuvor etwas aus dem Auto in die Garage tragen, die ich sonst kaum mal betrete. Und was ist? Mein Blick fällt als Erstes auf die Geschenktüte mit der Rotweinflasche darin, die ich im November (?) 2019 von Freunden in die Hand gedrückt bekam und dann schnellstens in der Garage verschwinden ließ. Da war sie nun wieder, die Versuchung in der Flasche. Der Anblick trifft mich unvorbereitet; ich zucke zurück und verlasse fluchtartig die Garage.
Ich weiß nicht, weshalb mich der Inhalt dieser Tüte in dem Moment (und zum Glück nur für den Augenblick) mehr getriggert hat als die Weinregale im Supermarkt.

Ich muss die Flasche dringend loswerden. Es hat mich kalt erwischt. –

Von meiner Familie werde ich über Ostern mehrfach zu einem „geselligen Beieinander“ eingeladen. „Dann trinken wir ordentlich einen. Ich habe guten Cognac da“, heißt es. „Oder willst du lieber Weinbrand?“

„Danke, nein. Ich trinke doch keinen Alkohol mehr.“

„Wie jetzt? Immer noch nicht?“ –

Beim Mittagessen in der Runde: „Wenigstens ein Glas Hugo?“

„Danke, nein.“

Der Geruch des Mixgetränkes meiner Tischnachbarin steigt mir unangenehm in die Nase. Erinnerungen an frühere Gelegenheiten mit dem Schwippswasser überrollen mich. Ich schiebe das Fleisch auf dem Teller lustlos hin und her. Die anderen diskutieren noch über meine seltsame Abstinenz.
Ich möchte lieber nach Hause fahren und nicht länger Tischgespräch sein. Und schon gar nicht den wahren Grund nennen: ‚Sorry Leute, ich kann meinen Alkoholkonsum halt nicht kontrollieren und darum trinke ich nichts mehr.‘ Das würde nichts besser machen.
Mein Zuhause ist 500 Kilometer entfernt, und so bleibe ich eben sitzen, esse alles auf und halte meinen Mund.
Kurz darauf heult mein Neffe und ich bin vergessen.

Ostersonntag bei einer Freundin; sie kenne ich seit 45 Jahren, er ist der neue Partner an ihrer Seite und erzählt aus seiner Vergangenheit: „Meine Ex hatte ein massives Alkoholproblem und wollte immer feiern gehen. Hauptsache, besoffen sein. Da steh ich gar nicht drauf.“ Ich zucke innerlich zusammen und kommentiere das nicht. Mir fehlen schlicht die Worte. –

Nur vier Tage und Alkohol war für mich präsenter denn je. Aber Suchtdruck hatte ich keinen. Immerhin. Trotzem haben sich ein paar Mal schwierige Gedanken eingeschlichen wie diese: „Werde ich es ein Leben lang schaffen nicht zu trinken? Wird es mir irgendwann mal schwer fallen nicht zu trinken? Welche Situation könnte mich schwach werden oder resignieren und aufgeben lassen? In welchem Moment könnte mir der hohe Preis im Tausch für meine Nüchternheit egal sein?“ Und: „Womit kann ich mich wappnen?“

Danke fürs Lesen, lieber Reiner. Und fürs da sein.

Gute 24 Stunden. (Das ist wohl erst einmal die naheliegendste Lösung: Immer nur auf die kommenden 24 Stunden zu schauen. Ich weiß.)

Alles Liebe
Eliza