Liebe Welt,

das mit der Anonymität ist ja nun vorbei und das Outing hat gar nicht weh getan. Ich habe noch gar nicht erzählt, wie es dazu kam und was nach der Sendung passierte.
Letztendlich ist die Auflösung recht simpel: Mein Blog ist Mitte Oktober von einem Redakteur des SWR im Rahmen einer Recherche gefunden worden. Ich hatte es satt, mich ständig für meine Sucht vor mir selbst zu schämen und habe darum spontan für die Talkshow zugesagt. Seit der Ausstrahlung spreche ich endlich offen über mein Alkoholproblem, wenn ich danach gefragt werde. Ich habe jede Menge Respekt, Erstaunen, aber auch Distanz und Unverständnis erfahren. Mein Partner, meine Familie, meine Freunde und viele Kollegen wissen nun um mein lange gehütetes Geheimnis und niemand hat sich abgewendet. Weil es (fast) jede und jeden treffen kann, weil die Grenzen zur Abhängigkeit fließend sind, weil ich eben trocken bin. Ich habe keine Ahnung, was im Falle eines Rückfalls (und wieder regelmäßigen Trinkens) geschehen würde. Mein Partner würde mich sofort verlassen, hat er angekündigt. Das glaube ich ihm sofort. Und die anderen?
Ich habe natürlich keine Ahnung, was mein Umfeld tatsächlich denkt. Werde ich argwöhnischer beobachtet, heimlich belächelt, abgewertet? Es ist mir egal. Ein tolles Gefühl.
Im Nachgang der Sendung ist mir allerdings richtig klar geworden, dass zehn Minuten Interview nur an der Oberfläche eines Themas kratzen können. Wie schnell entsteht in solchen Momentaufnahmen der Eindruck, es sei ein Leichtes, sich aus einer (dieser) Sucht zu lösen. Es klingt so einfach: Ich habe von heute auf morgen mit dem Alkohol aufgehört und das ohne fremde Hilfe. Es bleiben ein Trugschluss und ein fahler Beigeschmack. Denn nichts war einfach und mich niemandem anzuvertrauen war purer Leichtsinn und viel Scham.
Ich hatte in der Sendung keine Gelegenheit, auf mein unbeschreibliches Glück hinzuweisen, (noch) nur phsysisch abhängig gewesen zu sein. Alkoholkranke Menschen mit physischen Symtomen riskieren ohne ärztliche Hilfe beim Entzug schlimme Nebenwirkungen. Es hätte noch so viel zu sagen gegeben.

Mein Trost: Ich war nicht Gast in dieser Sendung, um zu missionieren. Ich wollte lediglich meine Geschichte laut und öffentlich und so offen wie möglich erzählen. So oder so, es ist geschehen und ich bereue den Auftritt nicht. Im Gegenteil. Ich bin seitdem wahnsinnig erleichtert von der Last des Verschweigens und kann mich endlich anderen Dingen auf meiner Agenda zuwenden. Dennoch bleibe ich auf der Hut: Der Dämon lauert überall und manchmal möchte ich ihn herbeiwinken und mit ihm anstoßen. Es wird nie vorbei sein. Ich bleibe Alkoholikerin. Aber bitte trocken.

Morgen ist Silvester und für mich immer die Zeit des Jahresrückblickes und der Wünsche für das, was kommt.
2022 hat für mich viel Neues mit sich gebracht. Ich bin im neuen Job gut angekommen und habe nicht zurückgeschaut. Gut so. Im August war ich endlich – nach einem Jahr Wartezeit – in einer psychosomatischen Reha. Dort haben viele schmerzhafte Erinnerungen ihren Weg an die Oberfläche meines Wahrnehmens gefunden und das war und ist eine enorme Herausforderung. So viele Tränen. Aber ich weiß nun um meine Ziele und was ich verändern möchte. Dabei helfen mir jetzt Einzel- und Gruppengespräche.
Mein jüngster Sohn ist daheim ausgezogen und studiert nun; ich finde mich in meinem neuen Alleinsein noch nicht so richtig zurecht. Mein ältester Sohn ist sehr krank geworden und ich sorge mich. Doch nur er selbst kann sich helfen.
Ich habe Sport getrieben und es wieder gelassen. Ich bin jetzt in einer Amateurschreibgruppe und wir planen für das kommende Frühjahr eine gemeinsame Anthologie. Ich habe mir ein zweites Tattoo stechen lassen und dadurch meine Beziehung gefährdet. Ich bin noch immer coronafrei…

Was möchte ich im kommenden Jahr angehen? Nicht trinken. Meine Depression in den Griff kriegen. Zur Therapie gehen. Schreiben. Ich möchte meinen Enkel an mich drücken, meine Kinder ab und an um mich haben, geliebt werden, zurück lieben, tanzen gehen, mehr Kleider tragen, Grenzen setzen, in den Urlaub fahren, lange Strecken wandern.

Welche Wünsche und Hoffungen habt ihr?

Ich wünsche euch einen schönen Jahresanfang und sende allen, die hier lesen, eine liebevolle Umarmung.

Bleibt gesund und seid nett zueinander. ;o)

In Liebe, Eliza