Liebe Welt,

es heißt, dass man sich Mitwisser suchen soll, wenn man sich eine schwierig erscheinende Aufgabe vorgenommen hat. Mit dem Rauchen aufhören, einen (halben) Marathon rennen, einige Kilos abnehmen, für eine lange Zeit auf Zucker (oder was immer) verzichten zu wollen. Den Plan einfach laut verkünden bzw. so vielen Leuten wie möglich davon erzählen. Das hat mit einen psychologischem Effekt zu tun, denn so tricksen wir uns selber aus. Weiß keiner von unserem Vorhaben, müssen wir das mögliche Scheitern auch nur mit uns selbst ausmachen. Oder geben generell eher auf, weil auch der Zuspruch von außen fehlt. Wissen viele davon, strengen wir uns mehr an und halten länger durch. Im besten Fall bis ins Ziel.

Hier zu schreiben, mich zu outen und sprichwörtlich zu häuten, ist ambivalent. Einerseits erleichternd, alles raus zu lassen ohne Tabus, mich ALLEN (der ganzen – ja, nur virtuellen Welt, aber immerhin) mitzuteilen, aber andererseits nur die halbe Wahrheit, da ich anonym schreibe und panische Angst habe, mein Sohn hier daheim, meine Kinder, mein Freund, meine mir Nächsten lesen das alles. Die Scham ist zu groß.

Ich habe mich voriges Jahr nur zwei Menschen tatsächlich anvertraut. Meiner damaligen Therapeutin heulend und verzweifelt gebeichtet, dass ich mich für alkoholabhängig halte, weil ich mein Trinken nicht kontrollieren könnte. Zu diesem Zeitpunkt war ich so tief unten, dass ich mich am Liebsten in eine Entzugsklinik einweisen lassen wollte, um endlich, endlich mit dem täglichen Konsum aufhören zu dürfen. Meine bis dato so  lebenskluge, toughe Therapeutin war mit meiner Beichte völlig überfordert: „Sie wollen in eine Entzugsklinik?“ Ich glaube, sie hatte vorher keinen Gedanken daran verschwendet, dass ich, ausgerechnet, ein Alkoholproblem haben könnte. Hochfunktional eben.
Sie hatte Erfahrung mit Essstörungen, aber nicht mit Alkoholsucht. Und nein, dass ist nicht vergleichbar. Sucht ist nicht gleich Sucht.
Meine Therapeutin erschien mir hilflos. Sie fragte zwar nach meinem täglichen Konsum (erstmal geschwindelt: eine halbe Flasche Wein), aber ihr wirklich ernstgemeinter Rat war unglaublich: “ Trinken Sie doch einfach weniger. Nicht jeden Tag. Oder schütten Sie von der geöffneten Flasche Wein erstmal mindestens die Hälfte in den Ausguss, damit Sie nicht in Versuchung geraten, doch alles zu auszutrinken.“
Sie riet mir damit zu kontolliertem Trinken, was Alkoholiker NICHT können. Und sie sagte „einfach“.
Danach fragte sie in jeder Sitzung nach dem Stand der Dinge und ob ich noch regelmäßig tränke, aber der Moment war vorbei: Ich wollte mit ihr darüber nicht mehr sprechen; ich fühlte mich bei dem Thema von ihr nicht verstanden. Also belog ich sie und schwächte ab. Damit taten wir beide zufrieden.

Der zweite Mensch, dem ich von meinem Problem erzählte, ist eine Freundin, mit der ich bis zu einem heftigen Streit (und einer hässlichen Trennung) oft telefoniert und damals sehr viel von meinen privaten Sorgen preisgegen hatte. Nach unserer Versöhnng Monate später offenbarte ich drucksend meine Sucht, weil ich dachte, ich sollte es tun. Sie meinte, sie hätte sich etwas in der Richtung schon gedacht, da ich Alkohol in unseren Gesprächen immer sehr thematisiert hatte. Wir haben das Ganze nicht weiter vertieft. Als ich voriges Jahr meine erste lange Abstinenzzeit schaffte, unterschrieb ich die Mails immer mit der Anzahl der nun trockenen Tage. Sie freute sich mit. Als ich rückfällig wurde, erwähnte ich das erst später kleinlaut im Nebensatz. Mein Versagen war mir peinlich.
Jetzt telefonieren wir nur noch selten (Der Streit und die Trennung haben Spuren hinterlassen und Vertrauen zerbrochen.) und dass ich es nun erneut ohne Alkohol schaffe, weiß sie nicht. Ich könnte ihr den Link zum Blog schicken. Aber mein Bauchgefühl hält mich noch ab. Vielleicht muss ich mich selbst erst sicherer fühlen?

Ich tue das (trocken werden und bleiben) für mich, nicht für andere. Und ich kann im Moment gut gemeinte Hinweise auf Sendungen im Fernsehen (‚Da läuft eine Doku über alkoholabhängige Frauen. Das ist was für dich.‘) oder liebe Versuche wie ‚Mein Verwandter XY ist seit Jahren trocken, den können wir mal besuchen.‘ nicht ertragen, wenn sie von Menschen kommen, die sich nicht einmal im Ansatz vorstelen können wie es mir geht. Die kein Problem mit Alkohol haben oder hatten.
Und nochmal nein: Nikotinsucht oder mit dem Rauchen aufgehört zu haben, ist nicht vergleichbar.

Was mir bleibt: Ich brauche Verbündete auf Augenhöhe. Die ein Stolpern, meine Ängste, den Suchtdruck, die Verzweiflung, die Häutung und sogar ein Scheitern im Rückfall verstehen. Die Mut machen und trösten. Weil es ihnen ähnlich geht.
Ich könnte real zu den AA-Treffen gehen (traue mich aber nicht) oder mich stattdessen wieder virtuell einer AA-Beginner-Gruppe anschließen oder erstmal nur in der Facebook-Gruppe mitlesen und manchmal kommentieren.

Und mein Freund: Der ahnt nichts. Denn er verabscheut und verurteilt Alkoholoker als nur „zu willensschwach und undiszipliniert“, von der Sucht los kommen zu wollen. Für ihn ist das keine Krankheit, sondern nur ein faule Ausrede, weiterzutrinken. Diskussionen zu dem Thema haben zwischen uns zu heftigsten Debatten bis zu handfesten Streits geführt. Er ist da unerbittlich. Also hüte ich mich mit meinem Outing.

In Liebe
Eliza