Guten Morgen liebe Welt,
im vergangenen Jahr habe ich zufällig an einem Vortrag des Motivationstrainers Andreas Niedrig vor den Neunt- und Zehnklässlern einer Sekundarschule teilgenommen. Thema: vom Junkie zum Ironman. Niedrig war lange Jahre heroinabhängig und hat sich nach dem Entzug mit einer Therapie, Sport und eisernem Willen zurück ins Leben gekämpft. Die Sucht hätte ihn beinahe die Familie und das Leben gekostet. Er musste erst in jeder Hinsicht zu Grunde gehen, um sich von den Drogen lösen zu wollen. Seine Geschichte hat er verfilmt und arbeitet heute als Motivatonstrainer. „Ihr müsst ein klares Ziel vor Augen haben“, sagte Niedrig zu den Schülern. Und dieses Ziel gelte es, konsequent zu verfolgen.
Geblieben ist mir von dem Vortrag ein schmales türkisfarbenes Silikonbändchen für das Handgelenk, das jeder als Erinnerung – und natürlich zur Visulaisierung der Motivation – geschenkt bekam. Darauf steht in fetten weißen (Groß-) Buchstaben gedruckt: Ich bin „WILLENSSCHAFFER!“ Das fiel mir kürzlich wieder in die Hände und ich frage mich: Ist das so?
Braucht es nur einen guten Willen, um jede Hürde im Leben zu meistern? Reicht das? Oder muss der Wille besser eisenhart als nur gut sein? Und gilt das für jede Hürde? Der Weg ist das Ziel, aber was, wenn man den Weg gar nicht kennt – sich das Unbekannte nicht einmal vorstellen kann – und das Ziel eher diffus ist?
Eine Feundin ist nach 30 Jahren Ehe von ihrem Mann verlassen worden ohne darauf vorbereitet zu sein. Was sollte nun ihr Ziel sein? Was ihr Wille? Sie ist verzweifelt, erstarrt, voller Trauer und schafft es nicht – natürlich nicht – sich ihre Liebe von jetzt auf gleich aus dem Herzen zu reißen. Reißen… zuammenreißen. Ist „zusammenreißen“ ein anderes Wort für willensstark? Okay, den Verlust eines Menschen, äußere Einflüsse auf unser Leben, kann ich nicht wirklich mit einer Abhängigkeit vergleichen, die übermächtig nach diversen Substanzen und Rauschzuständen verlangen lässt. Egal, ob es sich um den Drang nach zu viel Nikotin, Spiel, Alkohol, Drogen, Sex, Internet, Zucker, Sport, Essen, Anerkennung, Arbeit… handelt. (Wer sich frei jeder Suchtendenz spricht, der werfe den ersten Stein.)
ABER: Niemand verfällt mit Absicht einer Sucht. Es beginnt harmlos mit einer ersten Zigarette, dem ersten Eierlikör oder Bier, einem Joint, ein paar Überstunden. Die einen können ein Leben lang maßvoll und ohne nachhaltige Konsequenzen damit umgehen, viele andere nicht. Sie finden mehr und mehr Gefallen an dem, was der Konsum mit ihnen macht. Oder besser gesagt: Ihr Gehirn verfällt dem Dopamin, dem Botenstoff für Zufriedenheit und Glücksgefühl. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem die Grenze überschritten wird: Das Verlangen ordnet sich dem Verstand unter, die Selbst-Zerstörung setzt ein, ein abruptes Aufhören scheint schier unmöglich. Nun muss also der Wille her, um sich aus diesem Teufelskreis zu befreien.
Wenn das so einfach wäre… Der Irrglaube hält sich hartnäckig: Mein Partner ist fest davon überzeugt, dass gerade Alkoholiker „einfach“ nur undiszipliniert und eben willensschwach seien. Selbst meine Therapeutin, eine Schulmedizinerin gar, schlug mir ernsthaft vor, ich solle doch „einfach“ nicht trinken oder wenigstens aus jeder frisch geöffneten Weinflasche pro forma schon mal die Hälfte des Inhaltes in den Ausguss kippen und erst dann mit dem Trinken beginnen. So würde ich nur die Hälfte konsumieren.
Läge es nur am Willen, wäre es oftmals einfacher, denke ich. Ich habe die Motivation, meiner Zuckeraffinität zu trotzen; ich habe das Ziel, damit etwas für meine Gesundheit zu tun, Gewicht zu verlieren, mich schöner zu fühlen; ich habe den Willen, ab morgen damit anzufangen… und halte eine Woche durch oder zwei oder drei. Dann gebe ich der Versuchung nach: mit einem ersten Keks, einem halben Dutzend, einer ganzen Tüte voll… Der Wille war da, aber was war dann schwach?
Zucker bedingt eine Dopaminausschüttung. Drehe ich den Hahn zu, gibts zur Strafe erstmal tagelang heftige Kopfschmerzattacken im Entzug. Mein Gehirn fordert trotzig Nachschub ein, und manipuliert mich ohne mit der Wimper zu zucken: „Ein Keks schadet doch nichts… Gönne dir doch mal was…“
Klar, ein Keks schadet mir nicht. Aber denen, die an schwerer Zuckersucht leiden schon. Der Anfang der Spirale ist gemacht und ratzfatz wandern wieder Unmaengen an Süßigkeiten in strapazierte Körper. Wenn ich davon schreibe, zuckersüchtig zu sein, ist das eher eine kokette Übertreibung. Denn ich habe Blogs von Frauen gelesen, die damit echte Last hatten: tafelweise Schokolade, Nutellagläser auslöffeln und so weiter – täglich! – nein, das sind nie meine Mengen und ich kann es mir für mich auch nicht vorstellen.
Meine Sucht ist der Alkohol. Doch da gilt das Gleiche: Nur ein Glas wäre wieder der Anfang vom Untergang. Mein Suchtgedächtnis manipuliert mich für diesen Weg zum Rückfall massiv.
Wille impliziert ’sich Mühe geben‘. Wer versagt, hat sich nicht genug Mühe gegeben, urteilt die Menge. Wille bedeutet Disziplin. Mit dem ersten beherzten Biss in das Gebäck werde ich nicht nur rückfällig, sondern undiszipliniert. Aha.
Aber Sucht füllt etwas in uns aus. Sie kompensiert. Leere, Einsamkeit, vergessen, verdrängen, illusionieren… Wer sich von seiner Sucht lösen will, nimmt damit noch viel mehr in Kauf. Sich zu verändern, sein Leben zu verändern. Das ist nicht „einfach mal“ getan. Nicht mal mit ’nem bisschen guten Willen.
In Liebe und bleibt gesund in diesen Zeiten
Eliza
Guten Morgen, ja. Aber es ist so schwer in Worte zu fassen und Nichtbetroffenen zu erklären. Dass „einfach mal “ nicht einfach mal drin ist.
Liebe Grüße zurück und einen guten Tag für dich
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Ein arg vertrautes Thema, auch für mich. Bist nicht allein … Grüße und eine gute Nacht 👋
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