Hallo Welt,
ich habe mich geirrt. Als ich den Blog zu schreiben begann habe ich das Nicht-mehr-trinken mit einem Halbmarathon verglichen: ein Ziel vor Augen und nicht aufgeben. Die Intention bleibt die gleiche, nur der Weg ist ein anderer. Beim HM muss ich eine Strecke bewältigen und teile mir den Weg in Etappen ein. Ein Viertel, die Hälfte, darüber hinaus und motiviere mich damit. „Nur noch ein Stück, das Meiste ist geschafft… “ und so weiter. Irgendwann falle ich erschöpft und glücklich über den Sieg ins Ziel.
Trocken zu bleiben ist ein immerwährender Weg. Es gibt kein „schon die Hälfte geschafft“ oder ein „bald bist du da“. Wir zählen die Tage, die wir bereits ohne Alkohol bewältigt haben und setzen uns kleine Etappenziele, um uns weiterzuhangeln, aber es gibt kein Ende des Weges. Nur einen Anfang. So kann es passieren, dass sich nach verpuffter erster Euphorie die Frage einschleicht: „Wofür mache ich das?“ oder „So schlimm süchtig war ich doch gar nicht; ich habe jetzt so lange ohne Alkohol geschafft, da könnte ich doch jederzeit wieder damit aufhören.“ Alles, alles, alles, was vorher dazu geführt hat, endlich mit dem Trinken aufzuhören (zu wollen, zu müssen und auch zu dürfen), wird verdrängt und nichtig geredet. Warum renne ich einen Marathon? Um mich zu beweisen. Warum höre ich auf zu trinken? Um zu überleben. Es ist so schwer, das nie zu vergessen.
In der FB-Gruppe erzählen einige von ihren Rückfällen: nach einem Monat, einen dreiviertel Jahr, nach drei Jahren Abstinenz. Nur ein Bier, ein Glas Wein… Es ängstigt mich und ich schaue auf und blicke auf diesen enorm hohen Berg vor mir – über mir, dessen Gipfel in den Wolken verschwindet und den ich zu erklimmen versuche.
122 Tage sind eine lange Zeit, aber dennoch nichts gegen das, was vor mir liegt. Der Rest meines Lebens. Ich sollte nicht darüber nachdenken, ich weiß, sondern (doch wie ein Läufer) wieder den Blick nach unten auf meine Füße senken und mit kleinen Schritt Stück für Stück weiterlaufen.
Mag sein, es klingt pessimistisch und desillusioniert, aber auch diese Zweifeltage gehören dazu. Denn im Moment häufen sich die Momente, in denen ich wieder einmal etwas trinken möchte. Dann ploppen diese Gedanken auf.
Bemerkenswert finde ich dabei den Vergleich mit dem Rauchen. Da verlockt mich nach beinahe neun Jahren Nichtrauchens nichts mehr dazu, rückfällig zu werden. Gut, dieser Verzicht verändert auch nicht mein Da-Sein.
Vielleicht bin ich einfach nur ungeduldig? In den ersten nüchternen Tagen und Wochen, als ich die Bücher der Menschen las, die auch aufgehört hatten und von ganz neuen Erfahrungen mit sich schrieben, war ich so gespannt darauf, das gleiche zu erleben, zu fühlen, zu spüren. Ein neuer Mensch werden und am besten mit durchweg positivem und liebeswertem Charakter. Hahaha.
Ja, ich verändere mich. Sich zu häuten wie eine Schlange, beschreibt eine Frau in der FB-Gruppe ihre Wandlung. Es ist nicht so, dass ich über Nacht plötzlich anders denke und bin und die Welt leuchtet rosarot. Alles passiert sukzessive und sehr subtil. Und es ist harte Arbeit, bewusst etwas dazu beizutragen.
Ich glaube, ich bin gelassener geworden. Sensibler, aber deswegen längst nicht mehr nur verzweifelt. Weniger dramatisch. Leiser. Viel leiser. Empathischer. Anfangs war es mir noch wichtig, hier gelesen zu werden. Das ist längst weg und nicht mehr relevant. Ich muss nicht (mehr) auf Biegen und Brechen gefallen. Trotzdem bleibe ich harmoniebewusst. Aber ich sage „nein“, wenn ich was nicht möchte. Bauch vor Kopf. Ich habe mir vorgenommen, nicht mehr (oder zumindest viel weniger) zu meckern (auch nicht mehr über so profane Dinge wie langsame Autofahrer, ein volles Fitti, den Ex usw.) und nicht mehr über andere zu lästern. Passiert unter Kollegen ja schon mal flott. Und ich merke, dass mich die Diskussionen in der Gruppe zum Teil sehr beschäftigen. Manches triggert mich sofort und ich denke „Genau so ist es!“Dann notiere ich mir das und weiß, dass ich da näher draufschauen muss. Müsste. Noch schiebe ich, aber es arbeitet in mir und dann brauche ich halt die Zeit. Mein Überehrgeiz zündet nicht mehr; früher hätte ich längst mit der Eigenanalyse begonnen und mich hart gegeißelt. Heute warte ich und schaue und höre zu oder lese und guck, was mein Kopf damit macht.
Es gibt da jede Menge zu tun und aufzuarbeiten: dass ich lernen möchte, endlich zu mich endlich zu öffnen und zu vertrauen. (Wann schaffe ich es, mit meiner Familie, mit Freunden darüber zu sprechen was mir wiederfahren ist? Das ich ein Alkoholproblem habe und mich davon lösen möchte.)
Dass ich aufhören möchte, so streng und unerbittlich mir selbst gegenüber zu sein. Dass ich nicht perfekt sein muss und nichts mehr bweisen. Dass ich mich verwöhnen darf. Auch mit Schokoladenpudding, wenn mir danach ist. – Vor zwei Tagen hatte ich ein dickes Tief und am Abend so unbändige Lust auf warmen Schokoladenpudding als Seelentröster. Ich habe mir das verweigert, weil … der Pudding mich ja dick machen könnte. – So ein Quatsch, weiß ich (theoretisch). Erstens treibe ich gerade viel Sport, zweitens ist so ein Pudding ja nicht Superman und haut mir zehn Kilo über Nacht auf die Hüften und drittens habe ich jahrelang mit Alkohol den Dickmacher Nummer Eins in mich reingeschüttet und auch nicht Nein! gesagt. Aber Theorie und Praxis… Auch ein Thema: Mich anzunehmen wie ich bin (Selbstliebe!) und nicht sein zu wollen wie andere mich gern hätten.
Heute kam mir noch eine schöne Beschreibung meines aktuellen Lebenszustandes unter: „Eine Frau in den besten Jahren, der es die größte Freude ist, täglich mit zwei Wärmflaschen statt einer Flasche Rotwein ins Bett zu gehen. Die kaum Bedarf an Gesellschaft oder Zersteuung hat (…) Es ist wie ein Winterschlaf, ich igle mich ein, versinke in mir und finde nur schwer wieder den Weg zurück ins Leben…“ (Susanne Kaloff, „Nüchtern betrachtet war’s betrunken nicht so berauschend“)
In Liebe
Eliza