Liebe Welt,

um zu wissen, seit wann ich keinen Alkohol mehr trinke, muss ich immer auf meine App schauen, die die Tage für mich zählt. Ein gutes Zeichen. Doch der Dämon ist immer noch sehr präsent. Nur viel hinterhältiger als zu Beginn der Abstinenz, wenn das Verlangen nach Alkohol noch komplette Tage ausfüllt und so riesig ist, dass kein Platz für andere Gedanken ist als der nach dem ersten befreienden Schluck. Jetzt schleicht er sich auf leisen Sohlen an und steht plötzlich da; richtet sich auf in seiner ganzen furchteinflössenden Größe und manipuliert.

Ja, Alkohol ist teuflisch. Das ist nichts Neues. Mein jahrelanger Missbrauch hat mentale Spuren im Körper hinterlassen. Seit ich nicht mehr trinke, ist Zucker mein neues Laster. Ich brauche das Dopamin, ich brauche die schnelle Energie, ich brauche die Belohnung… Ich habe die Sucht verlagert.

Es ist nicht so, dass ich vorher nie Zucker gegessen habe oder in Maßen. Ich liebe Kekse! Es ist nicht der Konsum an sich, der mich merken lässt, dass ich ein neues „Problem“ aufgetan habe. Es sind die Gedanken, die mich dazu umkreisen und quälen. Suchtgedanken. Ich schaffe es nicht, längerfristig auf den Süßkram zu verzichten. Mal drei Tage, mal fünf… Dann kommt eine Situation, die mich emotional umtreibt und ich greife nach der nächstliegenden Zuckerbombe.

Beim Alkohol gibt es nicht wirklich Alltagssituationen, die mich triggern: Ich vermisse beim Kochen nicht den Wein dazu, bin auf Feiern innerlich gewappnet, dass die anderen trinken werden und dort viele Flasche herumstehen und ich immer wieder gefragt werde, ob ich nicht doch ein Schlückchen… Nein!
Höchstens beim Schreiben möchte ich ab und an am Glas nippen, weil mich das (meinte ich) kreativer werden ließ.
Nein, mich belasten am Meisten Momente großer Emotionen, denen ich mit Alkohol begegnen möchte. Ich möchte mich entspannen, trösten, belohnen oder einfach nur vergessen. Das kompensiere ich nun mit Zucker. Ich stopfe mich haltlos mit Gebäck voll. Beispiele? Das Ende einer Gerichtsverhandlung, nach einer Beisetzung oder einfach nur nach einem stressigen Tag: Ich will die fetteste Sahnetorte oder das süßeste Stück Kuchen was es gibt. Wahlweise eine Packung Schokoladenkekse. Und stressige Tage gibt es viele.

Allemal besser als mit Alkohol, möchte man meinen. Aber ich habe ein (ess-)gestörtes Verhältnis zu meinem Körper. Als Kind: zu dick, zu groß, zu plump, meinte meine Außenwelt, und ich wurde gehänselt und gemobbt. In der Familie und in der Schule. Ein lebenslanger Kampf mit dem eigenen Körperbild und gedanklich immer auf Diät. Ich kenne dicke Zeiten, ich kenne dünne Zeiten mit meinem Körper und selten war ich zufrieden mit dem, was ich im Spiegel sah. Essen ist für mich selten Genuss, sondern viel mehr Notwendigkeit und daher meist Nebensache. Ich hatte Glück und bin an allen ausgeprägten Krankheiten dazu vorbeigeschrammt und habe keine Bulemie, keine Mager- oder Fresssucht entwickelt.
Trotzdem kenne ich das Hochgefühl der Kontrolle über den eigenen Willen. Nichts zu essen, abgezählt zu essen, durch Sport aufgenommene Kalorien wieder zu verbrennen. Viel Sport für wenige Kalorien. Es hat krankhafte Züge, wenn die eigene Wahrnehmung auf der Strecke bleibt und man beginnt, sich Genuss nicht zu gönnen oder, schlimer noch, nicht zu verzeihen.

Als mir vor Jahren endlich bewusst wurde, dass ich zu viel Alkohol trinke und begann, davon loskommen zu wollen, war Selbsthass mein stetiger Begleiter. Ich wachte nach jedem betrunkenen Abend morgens mit ihm auf und hörte die dröhnenden Vorwürfe: „Wieso schaffst du es nicht aufzuhören?“ „Du bist Nichts, du bist schwach, du bist undiszipliniert…“

Ähnliche Gedanken trug ich während meiner früheren Diäten mit mir herum.

Nun höre ich sie wieder. Immer, wenn ich versuche, meiner Zuckerobsession Herrin zu werden und mit dem nächsten Gebäck scheitere. Nicht häufig, nicht täglich, aber seit ich nüchtern bin und klar und auf mich selbst zurückgefallen, hallen sie in meinem Kopf. „Wieso schaffst du es nicht, auf Zucker zu verzichten?“ „Du bist Nichts, du bist schwach, du bist undiszipliniert…“

Reduzieren, einschränken, einteilen… das können andere. Ich nicht. Zumindest nicht auf Dauer. Ich bin eine Ganz-oder-gar-nicht-Frau. Wie gesagt: Genuss ist mir fremd. Das hat sicher auch etwas mit Selbstliebe zu tun.  Achtung, Baustelle! ;o)
Ich kann nicht nur ab und zu mal eine Zigarette rauchen, nicht nur ein Gläschen trinken und nicht nur ein Keks am Tag essen. (Oder wahlweise an einem Stück Schokolade lutschen.)

Haltlos und maßlos – das ist für mich meine Sucht. Egal, in welchem Bereich. Dazu der Selbsthass, die Vorwürfe und Zweifel und diese Strenge mir selbst gegenüber, wenn ich – in meinen Augen – versage. Selbstzerstörung.

Wie finde ich da raus? Und wie kriege ich das mit dem Zucker in den Griff?

In Liebe
Eliza