Hallo liebe Welt,

wow, beinahe 100 Tage sind seit dem vorigen Eintrag vergangen. 100 Tage waren für mich die erste große Etappe auf dem Weg der Abstinenz. Nun ist es mal eben ein Zeitabschnitt zwischen zwei Einträgen. Die Prioritäten haben sich verschoben, die Maßeinheiten sich verändert.
Es ist viel passiert, drei Monae sind eine lange Zeit. Das Wichtigste aber: Ich bin nach wie vor auf dem Weg ohne Alkohol. Aber heute, heute habe ich totalen Jieper auf ein Glas Wein. Oder zwei. Oder wenigstens nur einen Schluck. Warum? Ich weiß es nicht. Ich will nur gern runterkommen und Ruhe finden. Ich bin seit Stunden hibbelig und unruhig und renne permanent zwischen den Räumen in meiner Wohnung hin und her. Nichts fesselt mich auf Dauer. Statt zu trinken reiße ich nun gefühlt zum 20sten Mal den Kühlschrank auf und überlege, ob ich etwas esse. Und was. Hunger wäre da, ich hatte heute „nur“ Snacks: Kekse, Nüsse, eine Scheibe Käse, ein Wiener Würstchen, ein paar Gabeln Brokkolisalat und so weiter. Von allem etwas, immer wenig, dauernd irgendwas, aber nix richtig. Nur Appetit habe ich nicht wirklich. Oder nur auf Süßigkeiten. Vielleicht sollte ich einfach nachgeben und so den Suchtdruck kompensieren? Eis essen. Viel Eis. Oder süßen Haferflockenbrei.
Oder einfach noch einmal eine Runde raus gehen. Vorn am Feld an der Straße leuchten mir bei jedem Vorbeifahren mit dem Auto die königsblauen Kornblumen entgegen. Ich könnte einen Strauß pflücken gehen….

Eine Stunde später bin ich wieder da. Es war eher ein hektisch-verzweifelter Spazier-Run mit langen Schritten und schnaufendem Atmen als ein gemütlich-entspannter Spaziergang, aber das Ergebnis zählt: Ich habe jetzt die Blumen in der Vase stehen, ein Eis gegessen und der Druck ist weg. Komisch, dass mir das Gefühl des Trinkenwollens nach Monaten der Stille im Kopf wieder begegnet. Mir wird bewusst: Es bleibt eine trügerische Ruhe und ich muss achtsam sein.

Während der vergangenen drei Monate ist tatsächlich für viele Wochen quasi die Zeit stehen geblieben. Zwangsweise, aber dennoch. Eine Pandemie hat die Welt erfasst, und wir alle waren in einem langen Lockdown gefangen. Zu Hause bleiben, Kontaktverbote, Quarantäne, unzählige Tote, Millionen Infizierte, Hundertausende Kranke. Geschlossene Geschäfte, Schulen, Firmen, leere Straßen, gespenstige Stille beim Einkaufen im Supermarkt, Abstandsvorgaben und Maskenpflicht. Surreal oft und manchmal wie in einem Horrorflm World War Z. Durch Homeoffice und Schichtdienst im Job sind die sozialen Kontakte auf nur noch virtuelle Begegnungen zurück gefahren und plötzlich war da ganz viel Leere und Isolation. Andererseits: Erholung für die Natur und für viele auch Besinnung auf sich selbst. Viele haben plötzlich das Ausräumen zu Hause  angefangen, wieder gelesen, gespielt, geredet. Und ich habe festgestellt, dass diese Ausnahmesituation oftmals auch die Eigenschaften verstärkt hat: Wer immer schon sozial unterwegs war, hat sich nun noch viel mehr engagiert. Und Egoisten waren noch selbstgieriger dabei.

Wie war es für mich? Ich hatte Pech. Von Beginn an, seit Ende Februar, war ich von  ominösen Krankheitssymptomen geplagt und bis heute kann keiner sagen, was genau ich hatte. Bzw. habe. Jeder Aussenstehende hat auf Corona getippt, weil trockener Husten und Atemnot, aber für einen Test haben meine Indikatoren nicht ausgereicht. Monate später habe ich einen Antikörper-Test gemacht und der war negativ, aber aktuell besteht für mich ein Verdacht auf eine Lungenerkrankung. Zwar nur leicht, in den Anfängen, aber wer weiß es schon, woher das kommt? Eine Krankheit für aktive Raucher, aber davon bin ich seit neun Jahren weg. Den Facharzttermin habe ich Ende September, in dreieinhalb Monaten. Ich muss geduldig sein und mich nicht zu sehr sorgen.

Vier Wochen war ich krank geschrieben daheim und das war schlimm: Ich fühlte mich angeschlagen und kraftlos, ängstlich, allein, isoliert und war zeitweise hochgradig depressiv, weil so hilflos. Keine Diagnose, keine ärztliche Unterstützung (Die Praxen haben die AU telefonisch verlängert.), keine Besserung, kein menschlicher Kontakt mit Trost und Nähe, kein Sport, keine Kraft, aktiv zu sein. Völlig auf mich selbst zurück geworfen. Ich habe viel gelesen, fern gesehen und geschlafen. Bin lange spazieren gegangen. Das, was kranke Menschen auch tun sollten. Aber ungewöhnlich für mich. Zumindest für so lange Zeit. Untätigkeit ist mein innerer Stolperstein.
Zu trinken war seltsamerweise gar keine Option. Zum Glück. Ich stelle mir vor, wenn ich da noch getrunken hätte. Wie viel ich in der Situation wohl konsumiert hätte und wie sehr ich abgestürzt wäre?

Aber meine Isolation hatte auch gute Aspekte: Ich habe eine Bucket-List für mich geschrieben. Und mich mit dem Ausräumen und Aufräumen nach Marie Kondo beschäftigt. Seit dem bin ich am Sortieren, reduzieren, verschenken und wegwerfen. Klamotten, Kataloge, Bürokrempel, Bücher… Schrank für Schrank, Schubfach für Schubfach, Kategorie für Kategorie. Gestern war eine Freundin da und hat Leinwände und Acrylfarben mitgenommen, die seit über sechs Jahren ungenutzt auf meinem Dachboden stehen. Ich verschenke auch alte bemalte „Kunstwerke“ zum Drübermalen und Spachteln und Hobbyzubehör, um mich von dem Selbstdruck zu befreien, „endlich mal wieder zu malen“. Ich mag nicht mehr nur im Morgen leben und denken „wenn ich mal Zeit habe“, weil das ein Trugschluß ist und mich stresst. Es geht nicht nur um die Zeit, sondern auch um die Muße, etwas tun zu wollen. Und um die innere Ruhe dafür, sich ganz auf etwas einlassen zu können. Beim Malen mit Pinsel und Farbe kann ich das schon lange nicht mehr und jetzt davon loszulassen, befreit mich enorm.
Ähnlich geht es mir mit Büchern, die sich ungelesen zu Hunderten in meinen Reaglen stapeln. Meine letzte Baustelle hier in der Wohnung. Mir zu überlegen, was ich mit den Büchern mache.

Ich habe mir einen neuen schönen Arbeitsplatz eingerichtet und nach langem Suchen einen wunderbaren Schreibtisch gefunden. Die Wände im Schlafzimmer sind nun endlich in meiner Lieblingsfarbe türkis gestrichen und ich liege in meinem Bett, schaue mich um und lächle glücklich über dieses wunderbare Leuchten. Die Schränke sind aufgeräumt und sortiert und leerer. Dinge haben ihren Platz und das tägliche Aufräumen daheim geht schneller und leichter.

Ich denke, diesen Ballast abzuwerfen, ist auch ein Teil des Prozesses, mich vom Alkohol  zu lösen. Auch gedanklich habe ich mich von einigen alten Mustern verabschiedet. Die Wut, die mich mit menem Vater verbindet, ist plötzlich einer neuen Gelassenheit gewichen und dem Gedanken: Welche positiven Dinge an mir habe ich von ihm geerbt? Da ist mir Vieles eingefallen und vielleicht ist das der erste Schritt zur inneren Versöhnung? Ich mag nicht mehr zornig und verbittert und ewig nachtragend sein. Mit viel innerem Frieden bin ich auch zu einem Familientreffen zu Pfingsten in die Heimat gefahren und das erste Mal seit vielen Jahren war ich weder vorher noch während des Besuchs angespannt oder genervt.

Wieder zur Arbeit zu gehen, gibt mit viel Halt. Ich brauche diese Struktur und Homeoffice ist nicht meins. Vier Wochen im Job zu fehlen hat mir aber auch gezeigt, dass ich ersetzbar bin (…) und nichts Schlimmes geschieht, wenn ich nicht Tag und Nacht arbeite… Nun möchte ich nur noch lernen, mit den Sticheleien und Unterstellungen und Verbalattacken meines Chefs umzugehen. Ich mache meinen Job so gut ich kann. Ich muss mir das für mich verinnerlichen und mich innerlich von seinem Urteil befreien.
Soziale Kontakte: Ich stelle meine Beziehung in Frage, lasse alte Freundschaften neu aufleben, gehe bei oberflächlichen Begegnungen auf höfliche Distanz, und buhle nicht mehr um Zugehörigkeit um jeden Preis. Dann halt nicht.

Ein langer Text und längst nicht fertig.
Dann jetzt doch wieder öfter hier? ;o)

In Liebe
Eliza