Liebe Nathalie,
das ist mein erster Sommer ohne Alkohol seit… ich weiß nicht wie vielen Jahren. Ich habe mich vor neun Monaten auf diesen Weg begeben und seitdem viele „erste Male“ erlebt: das erste nüchterne Weihnachtsfest, Silvester, Karneval, Betriebsfeiern und vor einigen Tagen meinen ersten nüchternen Geburtstag, Trauernde bekommen nach dem Verlust eines geliebten Menschen oft den Satz zu hören: „Das erste Jahr ist das Schwerste, weil plötzlich alles ‚ohne‘ ist und sich der Vergleich zum ‚früher‘ ungebeten und schmerzhaft aufdrängt. Da muss man einmal durch und dann wird es leichter.“ Aber nicht mehr trinken zu wollen, war für mich weder ein plötzlicher Verlust, sondern eine bewusste Entscheidung und nur manchmal beschleicht mich etwas Wehmut nach den geselligen Momenten mit einem Gals Wein in der Hand. So wie jetzt im Sommer. Aber nie Verzweiflung über das Nüchternsein. Es ist für mich ja kein Müssen, sondern ein Wollen.
Ich bin 52 Jahre jung und lebe mit meinem 18-jährigen Sohn auf dem Dorf in einer gemütlichen Dachgeschossmietwohnung.
Beruflich habe ich vor zwei Jahren den Sechser im Lotto geschenkt bekommen: eine Vollzeitstelle im Öffentlichen Dienst im Kultur- und Stadtmarketingbereich. Lottogewinn daher, weil ich lange Jahre alleinerziehend (ich habe drei Kinder) und schon auch stundenweise in drei Jobs parallel unterwegs war, um Geld zu verdienen. Viel zu arbeiten kenne ich und es schreckt mich nicht, aber es strengt wahnsinnig an und zehrt an Leib und Seele. Nun habe ich einen Job, der mich erfüllt und ausfüllt und gut ernährt und mir trotzdem noch Zeit für mich lässt.
Das regelmäßige Trinken hat sich sukzessive in mein Leben geschlichen und Raum eingenommen wie ein ungebetener Gast, der es sich gemütlich macht und plötzlich immer präsent ist. Bevor ich aufgehört habe, habe ich beinahe täglich am Abend mindestens eine Flasche Wein getrunken. Ich habe mir das quasi schön geredet: Drei Gläser Wein klingt paradoxerweise weniger viel als eine Flasche. Ich konnte nicht weniger, aber locker mehr trinken, wenn noch Reserven im Haus waren. Geschmeckt hat nur der erste Schluck für das erste wohlige Gefühl im Magen. Der Rest war Betäubung. Nach dem ersten Glas aufzuhören, habe ich nur in Gesellschaft außer Haus geschafft. Vor allem bei offiziellen Anlässen war ich besonders vorsichtig: die Grillfete oder eine Einladung beim Kollegen, der Betriebsausflug, die Weihnachtsfeier. Ich wollte nicht auffallen und mir als Erste nachschenken, während die anderen noch gemächlich am ersten Glas nippten. Also habe ich mich angepasst und bewusst langsam getrunken. Sich darauf zu fokussieren, ist wahnsinnig anstrengend: Du gierst nach langen Schlucken und darfst nicht. Manchmal habe ich die ganze Zeit nur Wasser getrunken, um den inneren Stress zu vermeiden. Ich bin nie lange bei solchen Anlässen geblieben.
Aber auch dann gab es Alternativen. Vorher zu trinken oder gleich nach dem Heimkommen. Aber dafür musste ich allein sein, weil mir schon bewusst war, dass irgendwas nicht stimmt mit meinem Trinkverhalten.
Bereits morgens nach der Flasche zu greifen, war nie eine Option. Da hatte ich Glück. Ausser dem stetigen Kater hatte ich keine Entzugserscheinungen und war noch nicht physisch abhängig. Psychisch schon. Ich konnte keine Pausen mehr machen – nach drei selbst auferlegten nüchternen Tagen war der Suchtdruck immer so riesig, dass ich erst erlöst war, wenn die nächste Flasche im Einkaufswagen lag, und ich konnte erst aufhören zu trinken, wenn entweder die Vorräte leer waren oder mir so schlecht wurde, dass nichts mehr ging. Ins Bett schleppen, durch die Nacht quälen, verkatert aufwachen und am nächsten Morgen zu Arbeit fahren. Restalkohol – ja. An den Wochenenden und im Urlaub habe ich schon mittags mit dem Trinken angefangen. Nach den ersten Tassen Kaffee und mit einem Buch auf dem Balkon fand ich es an der Zeit für das erste Glas Wein. Und war nach zwei Stunden schon arg angetrunken. Ken Problem, ich konnte mich prima verstellen. Meinte ich…
Das Schlimmste an der Abhängigkeit war für mich dieser stetige Selbsthass, der immer an meiner Seite war und mir ins Ohr flüsterte: „Du bist eine Versagern, du hast dein Leben nicht im Griff..“ Jeden Morgen der Vorsatz, nie wieder Alkohol trinken zu wollen und am Abend doch keine Kraft mehr, dem Suchtdruck entgegenzutreten. Jahrelang. Das macht depressiv. Alkohol macht depressiv und irgendwann kamen Tabletten (Antidepressiva) dazu, um es durch die Tage zu schaffen und die Suizidgedanken abzuwehren. So oft habe ich daran gedacht.
Seltsamerweise habe ich trotz allem (oder gerade deswegen?) meinen Alltag und den Job perfekt gemeistert. Blicke ich zurück, sehe ich mich in den anstrengenden Jobs, einer zermürbenden Vorstandsarbeit im Ehrenamt, Abend- und Wochenendterminen, mit Haushalt und Kind. Genau in der Reihenfolge. Von allem zu viel, für die Familie zu wenig. Weil dann zu Hause der Alkohol helfen sollte, mich von dieser Dauerraserei auf der Überholspur wieder auf die rechte Fahrbahn in ein ruhiges Tempo zu bringen. Am Ende des Tages war ich ausgeknipst und nicht mehr ansprechbar. Schneller, höher, weiter und immer die Angst, ich würde die (imaginären) Erwartungen der anderen an mich nicht erfüllen. Unperfekt zu sein. Jetzt hat sich herausgestellt, dass es oft nur meine eigenen Erwartungen waren.
Ich weiß nicht, wie mein Körper das auf Dauer ausgehalten hat.
Jetzt, nach neun Monaten Abstinenz, glaube ich, er ist immer noch im Erholungsmodus: Meine Energiereserven sind verbrannt und ich bin oft sehr müde und schnell erschöpft. Obwohl ich das stressige Leben längst hinter mir gelassen habe, gehe ich am Abend am Liebsten ganz früh ins Bett. All das, was ich gern mag und täte – lesen, zeichnen, schreiben, kreativ sein, meditieren, laufen – steht zwar auf meinem Wunschzettel, aber mein Körper will sich lieber von allem ausruhen. Ich lerne, das an- und hinzunehmen, Geduld mit mir zu haben und mir Zeit zu geben. Bücher laufen nicht weg.
Zu schauen, was seit dem Aufhören anders ist, geht für mich nur mit einem Rückblick. Es sind nämlch gar nicht unbedingt die riesigen Veränderungen, die den Unterschied machen. Nur eines – das Wichtigste und das Beste am nüchtern sein – ist so gravierend anders: Ich begegne mir wieder auf Augenhöhe. Dieser zerstörerische Selbsthass ist weg. Am Anfang habe ich jeden Morgen einfach nur Erleichterung gefühlt, keinen Kater zu haben und frisch in den Tag zu starten. Die Tage waren plötzlich so viel stressfreier. Mit jedem Monat länger nüchtern wuchs auch der heimlche Stolz: Ich schaffe das. Mich nicht mehr als Versagerin zu fühlen, mich körperlich wohler und seelisch freier zu fühlen sind die besten Geschenke an meiner Abstinenz. Die Tabletten sind längst abgesetzt und kürzlich habe ich alle gebunkerten Reserven für den „Notfall“ weggeworfen. Keine Suizidgedanken mehr seit neun Monaten. Traurige Phasen gibt es natürlich dann und wann, besonders zu Beginn war der Entzug eine emotionale Achterbahnfahrt. Aber niemals hatte ich den Gedanken: Schade, ich darf nie wieder trinken! Mein Mantra war von Anfang an: Was ein Glück, ich muss nie wieder trinken! Das macht eine Menge aus: dürfen, müssen, wollen, können.
Ich habe Stück für Stück Dinge in meinem Leben geändert seitdem. Das Ehrenamt abgegeben, die Abend- und Wochenendtermine abgelehnt, meine Wohnung entrümpelt, reduziert und neu gestrichen.
Aufhören zu wollen war eine spontane Entscheidung von einem Tag zum anderen. Ich wollte das alles nicht mehr. Es ist mir leichter gefallen als die vielen Versuche zuvor. Vielleicht lag es an der Halbherzigkeit „Ich müsste weniger trinken…“, dass ich es nicht füher geschafft habe. Der Suchtdruck seit dem Verzicht hat sich in Grenzen gehalten; anfangs noch täglich und stärker, aber nun kommt er nur noch in bestimmten Situationen spontan um die Kurve. Aber das ist auch das Gefährliche: sich in nüchterner Sicherheit zu wiegen.
Es gibt einen gravierenden Unterschied zu den meisten, die mit dem Trinken aufhören (wollen oder müssen): Ich habe kein soziales Sicherheitsnetz. Keine Beratungsstelle, keine reale Selbsthilfegruppe, keine Familie, die Bescheid weiß. Nicht mal mein Partner ahnt etwas, die Kollegen sowieso nicht. Ich habe heimlich getrunken und heimlich aufgehört. Nur eine Freundin und eine Facebook-Gruppe wissen davon. Doch Facebook ist virtuell und ich kenne in der Gruppe niemanden persönlich. Es ist die Scham, die mich schweigen lässt. Ein Alkoholproblem zu haben und das auch zuzugeben, nicht nur sich selbst gegenüber, ist wohl das Unperfektetste überhaupt für mich… Ein „Alki“ zu sein.
Jetzt an deiner Aktion teilzunehmen, ist ein erstes Outing und fühlt sich richtig an. Ich fühle mich gefestigt und bereit. Ich muss mich niemandem gegenüber rechtfertigen für meine Sucht, die ich mir nicht freiwillig ausgesucht habe. Aber dagegen anzugehen, habe ich freiwillig getan und kann so stolz drauf sein, es schon so weit geschafft zu haben. Das allein zählt.
War ich früher als quasi Sportwagen immer auf der Autobahn mit Tempo 200 km/h unterwegs, fahre ich jetzt eher als solider Kleinwagen über Bundes- und Landstraßen in gemäßigtem Tempo und vielen Pausen. Der Drang, alles und jeden überholen zu müssen, ist einem gelassenen Das-ist-nicht-wichtig-Gefühl gewichen und ich kann – sinnbildlich – über Stunden einem Trecker hinterherjuckeln, wenn es eben so sein soll, weil zu viel Gegenvekehr herrscht. Da ist mir das „Hupen“ der anderen hinter mir egal.
Ich bin ruhiger geworden, reflektierter (Ja, weil ich nüchtern besser zuhören und wahrnehmen und mir Dinge merken kann.), unperfekter und vor allem versöhnlich mit mir selbst und anderen gegenüber. Zorn und Wut und Angst sind auf ein normales Maß geschrumpft, wenn sie sich zeigen. Dafür sind Freude und Liebe gewachsen. Selbsthass und Selbstmitleid und Selbstzweifel haben sich unsichtbar gemacht. Sie sind da, das weiß ich, tief in mir verwurzelt und lauern auf ihre Chance. Ich weiß das und will das nicht vergessen. Aber auch nicht in den Focus stellen.
Seit dem ich nicht mehr trinke, habe ich ständig auf den großen Knall der Veränderung gewartet. Auf den Aha-Effekt, plötzlich ein anderer Mensch zu sein. Aber nein, die meisten Veränderungen sind still und hemlich und in kleinen Schritten passiert und es ist längst nichts abgeschlossen. Nüchtern zu leben bleibt ein Prozess und ich hab’s in der Hand.
In Liebe
*Nachtrag: Nathalie Stüben ist eine deutsche Journalistin, die in ihrem Blog „Ohne Alkohol mit Nathalie“ über ihren persönlichen Weg schreibt und anderen Betroffenen aktiv Hilfe anbietet. In ihrem Instagram-Account stellt sie unter #nüchtern Frauen und Männer vor, die über ihre Erfahrungen mit Alkoholsucht schreiben.
Lieber Typ, ich danke dir gleichfalls sehr für deinen Kommentar. Es berührt mich sehr, wenn Menschen sich von meiner Geschichte abgeholt, inspiriert, bestärkt oder – wie du – motiviert fühlen, frei vom Alkohol sein zu wollen. Für mich nähert sich der dritte Trockengeburtstag im. Oktober und ich bin sehr dankbar. Ich wünsche dir so sehr, dass du deinen Weg für dich beschreiten kannst und nicht allein dabei bist. Eine feste Umarmung für dich und liebe Grüße. Eliza
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…ich habe gelernt, dass man die Parallelen betrachten soll. Fast alles was du über das Trinken schreibst, trifft auch auf mich zu – und ich hasse es. Ich habe schon mal drei Monate „aufgehört“ und die positiven Effekte regelrecht erschrocken festgestellt. Es ist Wahnsinn wie viel besser es einem geht.
Nun hat sich der Sprit wieder in mein Leben geschlichen und welch wunder: großes Chaos angerichtet.
Texte wie dieser motivieren mich, doch noch mal zu schauen ob die Abstinenz nicht doch die Lösung ist. So wie auch bei dir, möchte / muss ich das halt auch mit mir selber ausmachen. Du hast mich damit motiviert, danke!
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Test
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